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Triageentscheidungen nach dem Zufallsprinzip?

Einspruch gegen die Forderung von Behinderten-Aktionsgruppen

Triage Der Referentenentwurf der Regierung für eine Ergänung des Infektionsschutzgesetzes bzgl. Triage-Entscheidungen wird heftig diskutiert. In der Süddeutschen Zeitung plädiert Heribert Prantl am 6. August 2022 in seinem Artikel “Abgründe” für das Verlosen von Behandlungsplätzen, weil nur dadurch Behinderte vor Diskriminierung in Triage-Situationen geschützt wären. Ich halte das unter allen Vorschlägen für den schlechtesten Weg. (Bild von Thomas G. auf Pixabay).

Warum sind wir als Gesellschaft nicht schon früher auf diese glänzende Idee von Herrn Prantl gekommen? Diskriminierung zuverlässig verhindern durch das Zufallsprinzip! Nicht nur bei Intensivplätzen während der Triage: In Zukunft sollten wir auch Arbeitsplätze, Mietwohnungen und Transplantationsorgane verlosen, um Diskriminierung sicher zu verhindern! Kann das unser Ernst sein? Als Behinderter sage ich nein:

Ich lebe selbst mit einer unheilbaren und lebensbedrohlichen Lungenerkrankung (Mukoviszidose), habe Diabetes als Folgeerkrankung, und bin dadurch schwerbehindert. Ich bin aber dennoch für die Triage nach Überlebenswahrscheinlichkeit, sogar auch für die Ex-Post-Triage - und ich teile deshalb nicht die Empörung des Aktionsbündnisses „Liga Selbstvertretung“, das auch nicht für alle Menschen mit Behinderung spricht. Meine Gründe will ich hier erklären:

Wenn Triage zum Einsatz kommt, handelt es sich um eine katastrophale Lage, medizinisches Personal ist überfordert und kann mit den verfügbaren Mitteln nicht mehr allen helfen, die Hilfe zum Überleben bräuchten. Daraus leiten wir zunächst ab, dass der Staat alles tun muss, um zu verhindern, dass Triage erforderlich wird. Bis dahin sind sich die meisten Leute noch einig. Die Erfahrung mit Katastrophen-Ereignissen hat darüber hinaus bewiesen, was auch logisch einleuchtet: Wir können viel mehr Personen vor dem Tod bewahren, wenn wir die vorhandenen Ressourcen nach Überlebenswahrscheinlichkeit priorisieren. Durch ein solches Vorgehen werden Einzelnen zwar Überlebenschancen genommen, und das ist natürlich eine Zumutung und macht Angst, es belastet extrem auch die Ärztinnen und Ärzte, die solche Entscheidungen treffen müssen – sie sind nicht zu beneiden! Trotzdem ist es vernünftig, so zu handeln, weil dann mehr Menschen geholfen werden kann!

Kleiner Exkurs zur Lungentransplantation:

Sehr schwer kranke Mukoviszidose-Patienten warten auf eine neue Lunge, manchmal viele Monate lang. Früher lief das nach dem „first come – first served“-Prinzip: Wer am längsten gewartet hatte, bekam die Lunge transplantiert. Die Folge war, dass sehr viele Patienten auf der Warteliste verstarben, bevor sie ein Organ bekamen, und die Transplantierten lebten mit dem Organ nicht mehr lange, weil ihre Krankheit nach der langen Wartezeit so weit fortgeschritten war, dass sie zu krank waren, um noch von dem Organ zu profitieren. Seit 2011 werden die Lungen in Deutschland sozusagen mathematisch, nach dem Lung Allocation Score (LAS) verteilt, der mit Hilfe medizinischer Daten die Differenz zweier Wahrscheinlichkeiten berechnet und damit Erfolgsaussicht und Dringlichkeit gleichermaßen berücksichtigt, wie es im Transplantationsgesetz vorgeschrieben ist. Der LAS rettet Leben: Die Zahl der Sterbefälle auf der Warteliste fiel um mehr als ein Viertel, und das bei um etwa 5%-Punkte gestiegener Ein-Jahres-Überlebensrate nach der Lungentransplantation . Was dabei kaum auszuhalten ist: Manche Patienten erhalten durch ihren persönlichen Score die Nachricht, dass es für sie inzwischen sehr unwahrscheinlich ist, dass sie noch eine Lunge erhalten. Was aber tun? Wenn wir jede Diskriminierung und Ungerechtigkeit sicher vermeiden wollten, würden wieder mehr Menschen sterben. Ist das Retten von Leben aber nicht das Wichtigste? Durch den LAS sehen die Betroffenen auf dem Gebiet der Lungentransplantation ihre Menschenwürde oder ihr Recht auf Gesundheit jedenfalls nicht gefährdet.

Bei der Triage ist das ähnlich:

Wenn möglichst viele Leben gerettet werden sollen, muss akzeptiert werden, dass Unterschiede gemacht werden. Natürlich ist es richtig und notwendig, das Diskriminierungsverbot für die Triage auch gesetzlich zu regeln, um für alle Beteiligten verbindlich festzuhalten, dass Behinderung, Vorerkrankung, Alter oder auch Ethnie per se kein Kriterium für die Auswahl sein darf, sondern nur insofern, als sie sich auf die Überlebenswahrscheinlichkeit auswirken.

Die Überlebenswahrscheinlichkeit kann der Arzt dem Patienten aber nicht ansehen, er braucht dazu medizinische Diagnosen und Messwerte, mit anderen Worten: Sie lässt sich bei vielen Patientinnen und Patienten erst nach einem Behandlungsversuch verlässlich abschätzen. Wenn wir den Behandlern also untersagen, jemals eine bereits begonnene überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlung wieder zu beenden, falls sich herausstellt, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit sehr gering ist, dann führt das dazu, dass in vielen Fällen, in denen auf den ersten Blick eine geringe Überlebenswahrscheinlichkeit anzunehmen ist, die Behandlung gar nicht begonnen wird. Die individuelle Chance, unter Triage-Bedingungen behandelt zu werden, wird sich also gerade auch für Behinderte weder durch ein Verbot der Ex-Post-Triage, noch durch die Vergabe der Plätze nach dem Zufallsprinzip verbessern. Vermutlich wird sie sich sogar verschlechtern, da die Intensivbetten in der ersten Welle nach dem Zufallsprinzip gefüllt werden, und dann kaum noch jemand reinkommt – zum Nachteil derer, die vielleicht besonders die Intensivmedizin benötigen, wie z.B. wir Menschen mit Behinderungen.

Wenn die Liga Selbstvertretung dann für Triage-Entscheidungen noch eine richterliche Genehmigungspflicht und strafrechtliche Konsequenzen bei Verstößen gegen das Diskriminierungsverbot fordert, muss ich an Kurt Tucholsky und seinen Ausspruch denken: „Wo ein Deutscher hingrübelt, wächst kein Gras mehr“. Auch das Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ) setzt mit solchen Forderungen die Behandler, welche in einer Überforderungssituation über Leben und Tod entscheiden müssen, unter zusätzlichen Druck, weil sie mit jeder Triage-Entscheidung rechtliche Konsequenzen und ein späteres Berufsverbot befürchten müssen. Ich glaube, dass diese Menschen sich lieber krankmelden und nach Hause gehen, als dass sie diese Risiken dann auch noch auf sich nehmen.

Dr. Sigrid Arnade vom Aktionsbündnis „Liga Selbstvertretung“ ist entsetzt darüber, dass Ärzte und Ärztinnen in einer Anhörung „dafür gekämpft haben, eigenmächtig über Leben und Tod bestimmen zu dürfen.“ Und Herr Prantl verbindet in seinem Kommentar die aktuelle Frage der Triage sogar mit der Euthanasie der Nationalsoziallisten. Will er damit Menschen mit einer anderen als seiner Meinung unterstellen, sie seien ebenfalls bösartig und würden Menschen mit Behinderung verachten? Ich finde, wir sollten weniger vergiftet diskutieren als Prantl oder die Liga Selbstvertretung das tun.

Die Gesellschaft muss entscheiden, welches Verfahren bei einer pandemiebedingten Triage-Situation insgesamt am wenigsten schlecht ist und den verschiedenen Anforderungen am ehesten gerecht wird“, schrieb der Medizinethiker Georg Marckmann im Tagesspiegel Background Standpunkt vom 18.05.2022. Lasst uns zunächst das Bundesverfassungsgericht ernst nehmen mit seiner Entscheidung, dass im Falle einer Triage allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden werden darf. Das Zufallsprinzip erreicht das Gegenteil, denn dann würde überhaupt nicht nach Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden. Was wir brauchen, ist das gemeinsame Erkennen des tragischen Dilemmas, den Austausch über den am wenigsten unzumutbaren Weg in der Not, und vor allem das gegenseitige Vertrauen, dass Menschen in solchen Situationen ihr Bestes geben. Diesem Anliegen auch behinderter Menschen hat Herr Prantl mit seinem Kommentar „Abgründe“ einen Bärendienst erwiesen.

Stephan Kruip ist 57 Jahre alt und lebt mit Mukoviszidose
Vorsitzender des Mukoviszidose e.V. Bundesverbandes www.muko.info
Mitglied im Deutschen Ethikrat www.ethikrat.org

Nachbemerkung: Die LIGA Selbstvertretung versteht sich als "die" politische Interessensvertretung der Selbstvertretungs-Organisationen behinderter Menschen in Deutschland. Das ist gelinde gesagt Selbstüberschätzung. Ich fühle mich in der Politik von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe (BAG Selbsthilfe) vertreten, die sich viel vernünftiger zur Triage zu Wort gemeldet hat.

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Foto: Ethikrat Stephan Kruip am RednerpultStephan wurde 2016 in den 26-köpfigen Deutschen Ethikrat berufen (hier sein kurzes Vorstellungsvideo). 2018 hielt er Vorträge über Ethische Probleme von Menschen mit seltenen Erkrankungen und über Menschenwürde und Keimbahntherapie. Zum Weiterlesen: Infobrief des Deutschen Ethikrats. Seit der Wiederberufung 2020 beschäftigen wir uns vor allem mit der Corona-Pandemie, z.B. die Impf-Reihenfolge und besondere Regeln für Geimpfte? 


IMPRESSUM findet sich unter Impressum

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