Kinesiologie

Vergebliche Muskelspiele

Foto HändeHier ist die "ultimative" Lösung für alle Krankheiten! Sie wollen ganzheitlich betrachtet werden, Ihre Emotionen sollen in die Diagnose einfließen ("Biofeedback"), und der Test soll einfach durchführbar, aber trotzdem irgendwie geheimnisvoll sein? Dann machen Sie den "kinesiologischen Muskeltest": Damit finden Sie sämtliche Ungleichgewichte im körperlichen und emotionalen Bereich, indem Sie Substanzen, Informationen, Emotionen oder auch Therapien individuell austesten!

Wie das geht? Sie "konfrontieren" z.B. einen Armmuskel mit einer Substanz, Information, Emotion usw., und der Muskel gibt die Antwort auf Ihre Fragestellung! Ja so einfach ist das: Entweder bleibt der Muskel auf den "Reiz" stark, oder er wird weich und nachgiebig. Kein Scherz: Sogar ausgebildete Mediziner bitten ihre Patienten, einen Satz auszusprechen und "messen" dann anhand der Muskelkraft die "Antwort". Kinesiologen sind überzeugt: Der Körper weiß einfach, ob der Inhalt eines vor den Bauch gehaltenen verschlossenen Glasröhrchens gut für ihn ist, und er kann es uns über die Muskelkraft sogar mitteilen!

Will man beim Patienten auf solch plumpe Art das „richtige“ Medikament bestimmen, Unverträglichkeiten und Allergien diagnostizieren, oder sogar psychische Blockaden lösen, dann muss der Kinesiologe seine Methode natürlich in pseudowissenschaftliche Watte packen: Das heißt dann Nambudripad’s Allergy Elimination Technique (NAET), „Touch for Health“ nach John Thie, „Behavioral Kinesiology“ nach John Diamond, „Edu Kinesthetics“ und „Brain-Gym“ nach Dennison oder die „Psychokinesiologie“ nach Klinghardt.

Beim Muskeltest muss man unterstellen, dass diese Antwort vom autonomen Nervensystem gesteuert wird und nicht willentlich von Ihrem Verstand manipuliert werden kann: Sagen Sie doch mal "Aztrionam" - na, wie reagiert Ihr Indikatormuskel? Ach so, ich hab noch was vergessen: Damit es klappt, muss man Ihnen natürlich vorher erklären, wofür die starke oder schwache Muskelreaktion stehen soll (sonst weiß ja Ihr autonomes Nervensystem nicht, wie es antworten soll, ist doch klar). Sagen wir also: Eine starke Muskelkraft steht für die gute Wirksamkeit des Antibiotikums in Ihrer Lunge - oder anders herum, ganz nach Belieben des Therapeuten. Für den kinesiologischen Muskeltest können leider nur binäre Fragestellungen genutzt werden: Dein Muskeltest sei ja oder nein, alles andere wird verteufelt. Und ganz wichtig: "Die Interpretation der vom Kinesiologen gefühlten Muskelanspannung des Probanden wird dem Untersucher und seiner Erfahrung überlassen." Hier antwortet ganz unwillentlich mein Zwerchfell-Lachmuskel!

Selbst wenn man unterstellt, das Nervensystem würde etwas antworten wollen: Sowohl der Patient als auch der Kinesiologe spannen Muskeln an, beide können Ihre Muskelkraft wissentlich oder unwissentlich anpassen, selbst wenn beide Beteiligte vom Gegenteil überzeugt sind. Die "Diagnose" ist dann z.B. "Störfelder von alten Narben", die der Heilpraktiker unbedingt mittels zehn Bioresonanz-Behandlungen à 50€ beruhigen muss...

Jetzt brauch ich nicht mehr zu erwähnen, dass Kinesiologie (aus dem Griechischen: Lehre der Bewegung) wissenschaftlich nicht anerkannt ist und mit medizinischen Kenntnissen nicht vereinbar ist, oder? Und es wundert Sie auch nicht, dass ein Nachweis des diagnostischen Wertes oder der Wirksamkeit der Kinesiologie bisher nicht gelang, obwohl es schon unzählige Male versucht wurde: Die (zufälligen) Ergebnisse hätte man jeweils auch mit einem Würfel erzielen können. Kinesiologen waren nicht mal in der Lage, mehr als zufällig die Antwort von Patienten mit Wespenstichallergie auf ein Röhrchen mit Wespengift von der Antwort auf ein Röhrchen mit Kochsalzlösung zu unterscheiden.

Warum gibt dann das Nervensystem Google auf den Reiz "Kinesiologie" über 500.000 Antworten? Weil die einen damit ohne Ausbildung viel Geld erbeuten, und die anderen zu leichtgläubig ihr Geld dafür zum Fenster hinaus werfen. Mein Rat: Lassen Sie vor einem Kinesiologen nicht die Muskeln spielen, sondern zeigen Sie ihm die kalte Schulter!

Stephan Kruip (Physiker und Mukoviszidose-Patient)

zuerst veröffentlicht in muko.info 3/2010 Seite 26