Orkambi

Eine kritische Bestandsaufnahme

Formel von LumacaftorOrkambi® ermöglicht für homozygote dF508-Patienten erstmals eine kausale Therapie der Mukoviszidose. In Deutschland übernimmt die Krankenkasse die Kosten, aber es wird in der Öffentlichkeit wenig über Nutzen und Risiken von Orkambi® diskutiert.

Die mit Orkambi® verbundene Hoffnung und Begeisterung darf die Abwägung von Nutzen und Risiken aber nicht verhindern. Das gilt besonders für die prophylaktische Anwendung bei jungen Patienten mit guter Lungenfunktion. Wir, eine kleine Gruppe von Eltern und Patienten, wollen hier die offene Diskussion von kritischen Fragen anregen:

1. Um wie viel verbessert Orkambi® die Lungenfunktion?

Orkambi® besteht aus zwei Wirkstoffen: Lumacaftor in der Dosierung 400 mg und Ivacaftor mit 250 mg pro 12h. In zwei Zulassungsstudien wurden insgesamt 740 Patienten eingeschlossen. Die Veränderung der Lungenfunktion war der „primäre Endpunkt“, also die wichtigste untersuchte Größe. Um wie viel hat sich in den Studien die Lungenfunktion verbessert? Gemessen wurde das anhand des „ppFEV1“ (percent predicted forced expiratory volume in 1 second), d.h. der maximalen Menge in einer Sekunde ausgeatmeter Luft in Prozent des vorhergesagten Durchschnittswertes Gesunder. Die absolute Änderung des FEV1 % gegenüber Placebo betrug in den beiden Zulassungsstudien zusammengefasst am Ende von 24 Wochen +2,5 %-Punkte 1) (in Worten: zweikommafünf Prozentpunkte).

2. Ist die FEV1-Verbesserung um 2,5 %-Punkte relevant?

Spürt man überhaupt, wenn sich die Lungenfunktion um 2 bis 3 % verändert? Der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat in seiner Bewertung 2) kritisiert, dass die Patientenrelevanz für den primären Endpunkt FEV1% insgesamt unklar sei, da er nur ein stellvertretender Parameter für die Gesundheit und Lebensdauer des Patienten sei. Er wies auch darauf hin, dass nicht einmal jeder dritte Orkambi®-Patient eine FEV1 %-Verbesserung um 5 % oder mehr erreichte. Die Pharmafirma (Hersteller) entgegnete auf diese Kritik in der Anhörung 3): Die Patienten empfänden einen „großen Nutzen“, und im Gegensatz zu symptomatischen Therapien führe Orkambi® dazu, dass die Patienten „tatsächlich weniger Mukoviszidose haben“.

3. Wieviel ist ein Anstieg um 2,5 % im Vergleich?

Tobramycin (TOBI®) verbessert den FEV1-Wert um ca. 6 %-Punkte, Dornase alfa (Pulmozyme®) um ca. 4 bis 5 % Punkte, beide Medikamente können somit als „preiswerter“ angesehen werden. Sogar ohne Medikamente kann ein CF-Patient den FEV1 um mehr als 2,5 % verbessern: Sport im Umfang von 3x 30 min pro Woche für ein halbes Jahr verbesserte die Lungenfunktion FEV1 in einer kleinen Studie signifikant um ca. 10 % gegenüber der nicht-Sport-treibenden Gruppe. Auch die Fitness steigerte sich signifikant. In der Studie gab es keine unerwünschten Nebenwirkungen. In anderen Mukoviszidose- Studien wurde gezeigt, dass Sport die Lebensqualität signifikant erhöht.

4. Warum steigt die Lebensqualität nicht an?

Lt. der Bewertung des G-BA 2) ergeben die über die Laufzeit schwankenden Studienergebnisse zur Selbsteinschätzung der Lebensqualität in fast allen Teilauswertungen des Fragebogens (sog. „Domänen“) keine statistisch signifikanten Unterschiede (Statistiker bezeichnen ein Testergebnis als signifikant, wenn die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Testergebnis in Wirklichkeit falsch ist, unter einem vorher festgelegten Prozentsatz, meist 5 % liegt). Auch in der Fragebogenversion für Eltern und Betreuer ergaben sich für die meisten dieser Domänen keine statistisch signifikanten Ergebnisse. Warum die Lebensqualität am Ende der Studie von 24 Wochen keine signifikante Verbesserung gezeigt hat, bleibt unklar.

5. Ist der Rückgang von Exazerbationen signifikant?

Bei Zulassungsstudien wird im Voraus ein Plan veröffentlicht, wie die Studiendaten ausgewertet werden, um zu verhindern, dass nachträglich die Auswertungsweise angepasst wird, um bessere Ergebnisse auszurechnen. Dazu gehört auch eine Auswertungshierarchie: Nur wenn wichtiger eingeschätzte Parameter signifikant sind, werden auch weniger wichtige Parameter ausgewertet. Nach diesem Prinzip hätte der Rückgang der Exazerbationen der zwei parallelen Orkambi®- Zulassungsstudien nicht ausgewertet werden können, weil sich die hierarchisch höher eingestufte Lebensqualität nicht signifikant verbessert hatte 4). Das veröffentlichte Ergebnis ist einfach die Zusammenfassung der Daten aus beiden Studien („pool“): In der Placebo-Gruppe haben in 24 Wochen 43 % eine Verschlechterung (Exazerbation) gehabt, verglichen zu 29 % in der Orkambi®-Gruppe. Andere Medikamente wie hypertone Kochsalzlösung, Pulmozyme und Azithromyzin können Verschlechterungen (Exazerbationen) übrigens in vergleichbarer Weise senken.

Eine pulmonale Exazerbation ist üblicherweise eine Verstärkung der Symptomatik, die eine Intensivierung der Behandlung erfordert. In den Zulassungsstudien wurde Exazerbation als Änderung in der Antibiotika-Therapie (IV, inhaliert oder oral) wegen mindestens vier Anzeichen aus einer Liste von Symptomen definiert. Stellen Sie sich vor: Der Patient kommt in die Ambulanz und erzählt: „Ich bin etwas müder als sonst, huste mehr, die Nase läuft, und das Sputum ist auch mehr geworden.“ Der Arzt sagt: „Dann inhalier doch mal 14 Tage Cayston statt Colistin.“ Schon trägt er eine Exazerbation ein! Könnte diese spezielle Definition zusammen mit der evtl. lückenhaften Verblindung (siehe unten) vielleicht schon erklären, warum Patienten mit Placebo etwas mehr Exazerbationen hatten?

6. Sind die Studien relevant für deutsche Patienten?

Lt. der Beurteilung des G-BA 2) gibt es bei einigen Auswertungen Abhängigkeiten von der Region. Auf die kritische Frage des G-BA in der Anhörung 3), ob Orkambi® in Amerika mehr Effekte zeige als in Europa, reagierte die Pharmafirma: „Wir gehen davon aus, dass es sich überwiegend um ein falschpositives Ergebnis in dem Sinne handelt, dass (...) kein systematischer Unterschied besteht, den wir erklären können“ (Anhörung 3), Seite 16 – 17). Sollte diese Zurückhaltung dann nicht auch für die Studienergebnisse gelten, die für das Medikament sprechen? Der G-BA kommt zu dem Schluss (Nutzenbewertung 2), Seite 64): Die Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf den deutschen Versorgungskontext konnte nicht gezeigt werden!

7. Was wissen wir über Nebenwirkungen?

Lt. den Zulassungsstudien 2) sind schwere Nebenwirkungen selten und stehen noch seltener im Zusammenhang mit dem Medikament. Beispiele für unerwünschte Effekte waren erhöhte Leberwerte, Atemwegs-Symptome, reaktive Atemwegserkrankungen, Menstruationsstörungen. Lt. dem Hersteller war damit die Sicherheit und Unbedenklichkeit des Medikaments bewiesen.

Was passiert aber nach den 24 Studienwochen, im wirklichen Leben, wenn das Medikament auf Rezept verschrieben wird? Lt. einem Forbes-Zeitungsbericht vom März 20175) hört „bis zu jeder dritte Patient“, der die Einnahme von Orkambi® außerhalb von klinischen Studien begonnen hatte, wegen Enge und Schwierigkeiten bei der Atmung wieder auf! Und in den Sozialen Medien und in persönlichen Mitteilungen wird nach längerer Therapiezeit neben dem bekannten Engegefühl über weitere ernste Symptome berichtet wie Schwindel, Akne, Sehstörungen, Haarausfall, Schwitz-Attacken und Depressionen, die im Studienzeitraum (noch) nicht auftraten. Einzelne Patienten berichten, dass ihnen die Haare in Büscheln ausfallen, so dass kahle Stellen bemerkbar sind.

Ärzte sind in Deutschland gesetzlich verpflichtet, schon den Verdacht auf Nebenwirkungen insbesondere neuer Medikamente an das Deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu melden. In der Nebenwirkungs- Datenbank des BfArM6) sind bis Juni 2017 erst 19 Verdachtsfälle für Orkambi® gemeldet worden. Die Meldung des Verdachts von Nebenwirkungen ist aber eine gesetzliche Pflicht des Arztes. Wird Orkambi® z.B. wegen anhaltendem Engegefühl in der Lunge abgesetzt, müsste das in der Datenbank auftauchen. Auf die Meldung der Nebenwirkung sollten Patienten also in ihrem eigenen Interesse bestehen oder die Nebenwirkung selbst melden. Wie sonst soll sich die Behörde ein vollständiges Bild der Sicherheit des Medikaments machen?

8. Muss man bei Depressionen auch an Orkambi® denken?

Eine CF-Ambulanz in North-Carolina (USA) berichtet im März 2017 7) von fünf weiblichen Jugendlichen, die nach Einnahme von Orkambi® Angstzustände und Depressionen bekommen haben, in dieser Ambulanz war das ein Viertel der weiblichen Jugendlichen, die Orkambi® genommen hatten. Zwei Mädchen haben im Verlauf einen Selbstmordversuch gemacht! Nach Absetzen von Orkambi® hat sich der Zustand bei vier von den fünf Mädchen innerhalb von drei Wochen wieder stark verbessert. Können wir das alleine mit den Wechselwirkungen zwischen Orkambi® und anderen Medikamenten erklären? Die Ärzte in North-Carolina vermuten eine direkte Wirkung von Orkambi® auf den Chloridkanal (CFTR) im Gehirn.

Die Pharmafirma hatte in beiden Zulassungsstudien vorher keine relevanten psychischen Nebenwirkungen festgestellt, lediglich zwei von neun Vorfällen wurden in Zusammenhang mit Orkambi® gebracht, weil Depression und Angst bei CF häufiger ist als bei Gesunden. Die Ärzte in North-Carolina empfehlen jedenfalls, bei Einnahme von Orkambi® engmaschig auf neue oder verstärkte Depressionen und Angstzustände zu überwachen und bei Depressionen das Medikament sofort abzusetzen.

9. Gab es evtl. Defizite bei der Verblindung?

Bei Doppelblindstudien soll die tatsächliche medizinische Wirkung eines Medikaments ermittelt werden. Deshalb führt man die Studie Placebo-kontrolliert durch und wertet nur die Differenz zwischen beiden Gruppen aus. Wichtig ist dabei, dass weder Patient noch Arzt wissen, ob Medikament oder Placebo zum Einsatz kommt. Diese notwendige Unkenntnis (Verblindung) kann schon durch eine geringe Nebenwirkung des Wirkstoffs zunichte gemacht werden. Was ist die Folge? Ein Patient, der ahnt, dass er „nur“ Placebo bekommt, und ein anderer, der ahnt, dass er einen Wirkstoff bekommt, beurteilen ihren Gesundheitszustand unterschiedlich (diesen Effekt kann man sogar messen, wenn tatsächlich beide Gruppen Placebo bekommen und eine Gruppe ergänzend lediglich einen harmlosen Stoff, der ein leichtes Kribbeln verursacht). Eine unzureichende Verblindung, auch wenn sie nur wenige Patienten der Studie betrifft, kann die Signifikanz eines Studienergebnisses künstlich erzeugen und den falschen Eindruck hervorrufen, unwirksame Medikamente seien wirksam 8).

Äußerungen von Studienteilnehmern lassen vermuten, dass die Verblindung in den Orkambi®-Studien nicht immer geklappt hat, weil als typische anfängliche Nebenwirkung ein „Purge“ berichtet wurde: Ein produktiver Husten, durch den man gefühlt das gesamte Sekret seiner Lunge heraushusten muss. Tritt der Purge auf, vermutet der Patient den Wirkstoff – bleibt er aus, schließt er auf Placebo. Viele Studienteilnehmer zeigten sich deshalb überzeugt, dass sie wussten ob sie Placebo hatten oder nicht. Auch hier bleibt also eine wichtige Frage: Ist das Studienergebnis trotz dieser möglichen Entblindung eines Teils der Patienten noch signifikant?

10. Warum wird der Preis geheim gehalten?

Orkambi® kostet lt. G-BA 2) mit Folgekosten 195.993 Euro pro Jahr und pro Patient. Bei 2578 Patienten in Deutschland, für die es in Frage kommt (homozygot dF508), kann die Belastung des Gesundheitswesens auf ca. 500 Mio. Euro pro Jahr geschätzt werden. Zum Vergleich: Die Mukoviszidose-Versorgung in der CF-Ambulanz kostet incl. Personal- und Laborkosten etwa 2.000 Euro pro Patient und Jahr, also nur 1 % dieser Medikamentenausgaben!

Die Weltgesundheitsorganisation WHO fordert eine Preisfindung, die sich am therapeutischen Zusatznutzen bemisst. In Deutschland ist das anders. Hier setzt die Pharmafirma einseitig ihren Listenpreis fest und verhandelt ihn anschließend mit den Krankenkassen. Beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) steht aber statt des Verhandlungsergebnisses zu Orkambi®: „Jahrestherapiekosten: Erstattungsbetrag vereinbart. Der Hersteller hat der Veröffentlichung nicht zugestimmt.“ 9) Warum hat ein gesetzlich versicherter Mukoviszidose- Patient nicht das Recht darauf, zu erfahren, welchen Betrag die Pharmafirma für ihr Medikament aus dem solidarischen Gesundheitssystem erstattet bekommt? Diese Geheimhaltung widerspricht nach unserer Auffassung dem Grundsatz auf Zugang zu amtlichen Informationen nach §1 Informationsfreiheitsgesetz.

11. Auswirkung auf die Lebenserwartung?

Mit Orkambi® lebt man 6,8 Jahre länger – haben Fachleute der Pharmafirma ausgerechnet 10)! Zur Berechnung dieser Zahl füttern sie ein mathematisches Modell mit Überlebensdaten aus Studien und Patientenregistern. Die Pharmafirma sieht darin einen bedeutsamen Nutzen und weist darauf hin, dass ein früherer Orkambi®-Behandlungsbeginn einen umso größeren Nutzen für das Überleben der Patienten haben könnte.

Von diesen Rechnungen verstehen wir nur so viel, dass unzählige geschätzte (!) Parameter miteinander verrechnet werden, bis 6,8 Jahre herauskommen. Aber wir wissen auch, dass schon vor Orkambi® ältere Patienten lebten, die ihre Überlebensspanne Jahrzehnte über die Voraussage ausgedehnt haben. Wie alt sie werden, weiß man überhaupt nicht, weil sich die CF-Bevölkerungspyramide in schneller Veränderung befindet! Wie man mathematisch von 2,5 % FEV1-Verbesserung auf 6,8 Jahre längeres Leben schließen kann, ist uns deshalb schleierhaft. Wie viele Todesfälle gab es im Studienzeitraum und wie viele in der „gematchten“ Kontrollgruppe? Lassen sich daraus wirklich statistisch belastbare Überlebenszeit-Unterschiede für Mukoviszidose-Patienten ableiten? Sind in die Analyse auch die Folgen von Nebenwirkungen eingeflossen? Spiegel-Autor Johann Grolle fasst seinen Eindruck so zusammen: „Ob Orkambi® das Leben verlängert, weiß niemand.“ 11)

12. Es bleiben wichtige Fragen

Wie steht die geringe Wirkung des Medikaments in Relation zum hohen Preis und zu den beobachteten Nebenwirkungen? Warum wird der abgerechnete Preis geheim gehalten? Warum wurde eine Verringerung von Exazerbationen gegen den ursprünglichen Auswertplan als signifikant veröffentlicht? Über alle diese Fragen sollten wir reden, meint Prof. Martin Mayer von der East Carolina University: „Patienten verdienen eine transparente und verständliche Diskussion über Orkambi®, bevor sie diese therapeutische Option erwägen. (...) Hoffnung und Begeisterung für neue kausal wirkende CF-Therapien dürfen die Interpretation von Forschungsergebnissen nicht beeinflussen.“4)

Dieser Artikel erschien in muko.info 4/2017, dem Mitgliedermagazin des Mukoviszidose e.V. Die Namen der Autoren sind der Redaktion der muko.info bekannt